Medizintour zum Rio Quiquibey Januar 2022

Es fühlt sich so gut an, endlich wieder unterwegs zu sein – nicht nur einfach so unterwegs zum nächsten Abenteuer, sondern unterwegs fürs Abenteuer Hilfsprojekt. Dabei war die Vorbereitung alles andere als problemlos.

Sonia, die Zahnärztin, lebt nach wie vor in Rurre. Sie führt einen kleinen Laden und hat so Corona bisher überlebt. Joselo, der Administrator vom Projekt „Salud del Rio Beni“, musste ins 2 Stunden entfernte San Borja umziehen. Ohne Einnahmen konnte die kleine Klinik nebst Labor die laufenden Kosten während der Pandemie nicht decken. Hilfe vom Staat gabs nicht, also folgte die Schließung. In San Borja kann Joselo wenigstens durch die Herstellung, den Verkauf und die Wartung von Trinkwasserfiltern etwas Geld verdienen. Dort gibt es Kundschaft. Melvin hat Boot und Motor tatsächlich über die Coronazeit retten können! Um ehrlich zu sein, hatten wir davor am meisten Bammel, dass er beides verkauft hat, um Essen für seine Familie kaufen zu können. Aber das Schlitzohr hat während des monatelangen Lockdowns illegale Angeltouren organisiert. Der Verkauf der Fische auf dem Markt hat mehrere Familien über die Coronazeit gerettet. Bis heute gibt es keine Touristen für Dschungeltouren in Rurrenabaque.

Carlos – Krankenpfleger/Impfer aus dem Hospital und seit Jahren fester Bestandteil des Teams – ist in die Notfallambulanz versetzt worden. Wir hoffen, dass Hospital kooperiert trotzdem. Immerhin hat Joselo schon von San Borja aus einen Arzt für die Tour organisieren können. Für bolivianische Verhältnisse sind also die Voraussetzungen für einen Start am Montag den 24.1. ganz gut als Joselo Donnerstagnacht in Rurrenabaque eintrifft!

Die meisten Medikamente hat er schon vorher bestellt. Allerdings gibt es nach wie vor keine Post in Rurre. Außerdem ist die Airline seit letztem Jahr pleite. Heißt alle bestellten Waren/Ersatzteile kommen mit dem Bus…… Von 2 Laboren fehlt die Bestellung noch ohne jede Spur.

Der Benzinkauf ist ja eh immer ein spannendes Thema. Immerhin gibt’s erstmal welches. Aber nach den ersten 200 Litern ist die Tankstelle leer. Zum Glück gibt’s da ein Hinterzimmer in der Tanke mit Schüsseln(!). Da drin sind die Reste, die immer im Zapfschlauch bleiben gesammelt – kleiner Nebenverdienst. Also per Mund Schlauch ansaugen und so bekommen wir auch die restlichen 100 Liter ;o)

Zelte, Küchenausrüstung, Packkisten müssen hauptsächlich kontrolliert, gereinigt und bissl ergänzt werden. Parallel versucht Joselo immer wieder, einen Impfer aus dem staatlichen Hospital zu organisieren. Aber der Direktor ist in Santa Cruz, die Oberchefschwester in Trinidad und keiner ist zuständig – keiner will entscheiden. Samstagabend erhalten wir endlich die Zusage für 1 Krankenpfleger und Impfdosen. Jacobo soll uns begleiten. Der ist aber bis Sonntagabend nicht erreichbar – das Zittern geht also weiter!

Beim Erstellen der Einkaufslisten gibt’s die gewohnte Kabbelei zwischen Team Kartoffel (Deutschland) und Team „Reis für alles“ (alle Bolivianer). Team-Lieblingsgericht; Nudeln geht bei allen immer! …vielleicht noch ein klein wenig Reis dazu ;o)))

Samstagmittag – wir wollen gerade die Einkäufe starten – erhält Joselo einen Anruf. Der Arzt kann nicht! Er hat die Daten verwechselt! Ohne Arzt brauchen wir nicht starten!  Viele wollen helfen, vermitteln Kontakt und Telefonnummern. Aber soviel Spontanität ist dann selbst im unplanbaren bolivianischen Tiefland zu viel. Es hagelt Absage für Absage oder oft gibt’s gar keine Reaktion, weil einfach nicht erreichbar. Endlich 21.39 Uhr kommt der erlösende Anruf – Dr. Cristian Tristan hatte im Gesundheitsposten irgendwo zwischen Rurre und Reyes einfach kein Netz – ist ja bei uns im Hostel an der Elbe auch so…. Aber er kann, allerdings endet sein Turnus erst Montag früh. Aber er will da sein. Von Reyes bis Rurre sind es 2 Stunden – ohne Regen! Ok, jetzt können wir auch alle frischen Lebensmittel einkaufen!

Montag 8.00 Uhr, eigentliche Startzeit. Boot ist beladen, es fehlen Impfer und Arzt. Aber angeblich sind alle auf dem Weg… 8.30 Uhr - Ambulanz bringt tatsächlich Impfer Jacobo in Gummistiefeln und langen Klamotten. Er weiß also zumindest, wo wir hinwollen. Allerdings macht uns die kleine Thermokiste stutzig. Carlos hatte immer seinen monströsen „weißen Sarg“ dabei. 5 Tage müssen ausreichend Impfstoffe ausreichend gekühlt werden.

Nun fehlt nur noch Dr. Tristan. Er sei unterwegs, aber auf der Straße von Reyes ist kein Netz. Nervös tigern alle hin und her. Endlich kurz nach 9.00 Uhr kommt er mit dem Motorradtaxi angebraust. Quiquibey – wir kommen!

Zuerst den Rio Beni durch die Canyons hinauf bis zur Mündung des Rio Quiquibey, dann schauen wir mal, wie weit wir kommen. Aber das entscheidet der Wasserstand. Nach etwa 2 Stunden mischt sich das rotbraune erdige Wasser des Quiquibey mit den eher grauen sedimenthaltigen Fluten des Rio Beni. Die „Hochzeit“ der Rios ist klar erkennbar. Manchmal mussten wir hier schon rausspringen und das erste Mal schieben. Aber es sieht gut aus. Melvin spricht sogar schon von idealen Wasserbedingungen. Ab jetzt nimmt Nico vorne im Bug Platz als Puntero. Der stark mäandernde Quiquibey ändert immer wieder seinen Lauf. Sandbänke entstehen, Steilufer werden abgetragen, Hütten und Felder werden mitgerissen. Dörfer müssen immer wieder umverlegt werden oder befinden sich plötzlich weit ab vom Fluss. Baumfriedhöfe erschweren die Durchfahrt und bilden tückische Hindernisse unter Wasser für Boot und Motor. Mit einem geheimnisvollen System aus Zeichen und Gesten verständigen sich Nico und Melwin über Wassertiefe und Fahrlinie. Das muss man mal gesehen haben! Niko ist außerdem der Verantwortliche für alle Gesundheitsfragen im CTRM der Tsimane und Motsetene im Pilon Lajas Schutzgebiet und wird uns als Übersetzer helfen.

Allein Melwin entscheidet heute als Motorista und somit Kapitän, wie weit wir fahren. Aber noch scheint alles perfekt und wir beschließen sogar gleich im obersten Dorf San Luis Grande zu übernachten. Geben also unterwegs in alle Weilern Bescheid, wann wir auf dem Rückweg ungefähr zur Sprechstunde eintreffen, damit nicht ein Großteil der Familien gerade auf ihren Feldern verstreut ist oder zum Fischen unterwegs ist. Telefon gibt’s hier nicht.

Der Zeitplan gibt sogar noch Zeit für eine Sprechstunde auf der Hochfahrt in Aquas claras her.  Da es bereits nach 15.00 Uhr ist, sollten alle zurück sein und es wohnen nur 4 – 5 Familien da. Gemeinsam schleppen wir unsere Kisten die steile Böschung hinauf. Aus drei Bänken und Brettern werden Sprechzimmer unter Bäumen improvisiert. Die Insekten haben auch schon gehört, dass es Frischfleisch gibt… Nur bei den Familien dauert es…. Naja, hier muss auch nie jemand die Straßenbahn schaffen.

Melvin wird unruhig – der Quiquibey steigt, erst kaum merklich, dann immer schneller. Immer mehr Treibholz kommt von Oben – ein untrügliches Zeichen, dass da noch deutlich mehr Wasser kommt. Schließlich setzt er uns ein Limit. 17.00 Uhr allerspätestens müssen wir alle im Boot sitzen. Bis San Luis Grande sind es noch 1.5h unter normalen Bedingungen. 19.00 Uhr wird es dunkel. Aber gerade ist nichts normal – also hastiger Aufbruch. Es wird eine Zitterpartie gegen die Strömung mitten durch das Treibholz. Immer wieder reist Melwin den Motor aus dem Wasser um die Schraube zu schützen,. Dann dauert es eine Weile, bis der Motor wieder greift. Im letzten Tageslicht biegen wir in den kleinen Nebenfluss ein. Zum Glück erwarten uns bereits fleißige Helfer. Der Motor ist weit hin zu hören. Melvin und Nico werden von uns bejubelt! Sie sind völlig fertig. Alles muss mehrere hundert Meter bis zum Schulgebäude geschleppt werden. Jacub kümmert sich sofort ums Abendessen.

Wir bauen gerade die Zelte auf, als Nico mit Dorfchef Trini uns unterbricht. Notfall: drei Tage alter Säugling, die Mutter hat kaum noch Kraft und produziert auch keine Milch. Beiden geht es sehr schlecht. Inzwischen ist es stockdunkel. Der Doc und ich stiefeln sofort los. Strom und fließend Wasser gibt’s nicht – deshalb Wasserflasche und Taschenlampe. Die Bretterhütte ist noch aufgeheizt vom Tag. Auf einem Bambusgestell liegt die blutjunge Mutter in Decken gewickelt und zittert, neben ihr sitzt ihre Großmutter und wiegt den Kleinen. Sie hat auch bei der Geburt geholfen. Für die junge Frau war es die erste. Der Kleine wurde bisher mit Kokosmilch gefüttert – klar hat er Hunger und auf Dauer reicht die Kokosmilch nicht, aber noch ist die Situation für ihn nicht lebensbedrohlich. Das wichtigste ist jetzt also die Mutter. Sie muss überleben und endlich Milch produzieren können! Dock Tristan taucht mit unter das Moskitonetz. Ich halte die Lampe. Die Luft ist stickig und heiß. Mitten im Raum auf dem Boden eine feuerstelle mit qualmendem Holz gegen die Moskitos, dazu mit Boros und Schrunden übersäte Hunde, Hühner und noch irgendwas mit Flügeln. Mit unserem Eintreffen hat sich der raum mit Frauen und Kindern gefüllt. Die drängeln jetzt um uns rum und jeder Körper ist wie ein kleiner Ofen und hat seine eigene Insektenwolke mitgebracht. Die Mischung aus Schweiß und Insektenschutz brennt in den Augen. Bis auf den Lichtkegel meiner Taschenlampe ist es stockdunkel hier drinnen. Mit Medikamenten könnte zumindest der Mutter wieder auf die Beine geholfen werden. Im Moment kann sie sich nicht mal aufsetzen. Sie blutet immer noch, aber nur wenig. Alles klingt hoffnungsvoll. Eine andere Frau im Dorf, selbst gerade Mutter geworden, wird dem Kleinen die Brust geben. Ihr Neugeborenes bekommen wir erst am nächsten Tag zu Gesicht – aber dazu später. Normalerweise hat der Staat ein extra Ernährungsprogramm mit spezieller Folgemilch für Babys aufgelegt. Aber die hat unser Impfer natürlich nicht dabei! Auch die kostenlosen Medikamente für Kinder bis 5 Jahren hat er in Rurre gelassen … Aber auch dazu später.

Für heute fällt erstmal die Anspannung ab. Beim Abendessen sind natürlich die letzten beiden Jahre mit Corinna das Thema.

Mit Sonnenaufgang erwacht das Dörfchen. Morgennebel hängt zwischen den Hütten. Zeit für eine Katzenwäsche und das morgendliche Geschäft ohne Stiche. Es gibt ein neues Klohäuschen im Unterholz – das hat sogar europäische Höhe. 8.00 Uhr sitzen wir schon im Boot Richtung San Luis Chico – eine Stunde flussabwärts. Der Quiquibey hat sich zum Glück beruhigt. SLC ist die größte Comunidad am Fluss – wir haben den ganzen Tag eingeplant, inclusive Zahnputzcampagne. 20 Minuten müssen wir unsere Ausrüstung durch den Urwald schleppen, über wackelige Holzbretter balancieren, einen kleinen Fluss durchwaten, dann erkennen wir die ersten Palmblattdächer. Mist, der Dorfchef ist nicht da, der Gesundheitspromoter auch nicht – also müssen wir erstmal die Vorhängeschlösser der Schulhütte knacken. Die Schlößer sind mittlerweile das Solideste an dem klapprigen Holzgestell mit löchrigem Dach. Aber besser hier als unter freiem Himmel behandeln. Es gibt Schatten und wir können die neugierigen Zuschauer etwas besser in Schach halten. Nach und nach treffen immer mehr Familien ein. Die meisten Männer sind ein paar Tage unterwegs. Da die Frauen schüchterner sind und viele kaum spanisch sprechen, wird es komplizierter werden. Zum Glück ist Nico dabei. Mit nur einem Übersetzer müssen wir uns halt umorganisieren, denn er kann nicht gleichzeitig bei Joselo, Zahnärztin, Impfer, Arzt und der Medikamentenausgabe sein…. Zuerst geht die komplette Familie zu Joselo. Der sucht die entsprechende Patientenakte raus oder erstellt eine neue, wiegt (ist wichtig für die Medikamentendosierung), misst Blutdruck. Parallel bekommen alle eine „Wurmkur“ gegen Parasiten. Doctor Raton(Dr. Maus) – meine kleine Fingerpuppe – verteilt je nach Alter Tabletten  oder Saft. Zur Belohnung gibt’s von Senor Blanco einen Luftballon. Auf den sind hier alle scharf und man kann die unendlich lange Wartezeit etwas überbrücken. Ok, während der Wartezeit vorm Arzttisch, bis alle 8 Geschwister und Eltern behandelt sind, löst man damit auch Chaos aus. Aber daran stört sich keiner hier. Mit Engelsgeduld arbeitet sich Doktor Tristan durchs Gewusel…. Ist eine Familie vollständig erfasst, übergibt mir Joselo den Papierstapel. Damit Dr. Tristan sich nur auf die Patienten konzentrieren kann, übernehme ich alle Schreibarbeiten wie Statistik, Diagnose notieren, Rezepte ausstellen bzw. passt der Begriff malen besser in einem Gebiet, wo die meisten noch nicht mal unterschreiben können. Quer durch den Raum rufe ich Torsten und Sr. Blanco die gewünschten Arzneien zu. Das geht schneller. So kann einer jeweils das Register führen und der andere raussuchen. Dr. Tristan kann die Medikamente wiederum direkt samt Dosierung erklären. Nico übersetzt einmal und muss nicht extra nochmal mit zur „Apotheke“ um zu erklären. Erst wenn die komplette Familie beim Arzt durch ist, geht’s mit den kleineren Kindern und Säuglingen zum Impfer. Der kontrolliert erst die Impfcarnets und schreitet dann zur Tat. Zudem übernimmt er sämtliche Medikamenten-Injektionen, damit der Arzt entlastet wird.

Torsten und Sr. Blanco passen auf, dass keins der Kinder die Zahnarztsprechstunde verpasst – auch hier geht keiner gerne zum Zahnarzt. Sie helfen beim Instrumente reinigen, assistieren als Beleuchter, notieren Namen und Daten. Die Schreibarbeit übernimmt irgendwann Jacub, unser Koch und Helfer bei allem. Teamarbeit ist alles! Sonja fluoriert und sie hat ein ganz neumodisches batteriebetriebenes Gerät zum Aushärten von Füllungen dabei. Sie wendet die Füllungen bei Kindern an, die bereits ihre „richtigen“ Zähne haben. Für die Behandlung hier draußen ein Riesen-Fortschritt. Staunend und auch skeptisch werden die ersten Ergebnisse begutachtet. Trotzdem müssen so einige Zähne gezogen werden. Nach reichlich 5 Stunden haben wir es geschafft. Ein einsetzender Regenguss beschleunigt das Einräumen, da das Dach durchlöchert ist. Jacub besänftigt unsere knurrenden Mägen, dann geht’s zurück zum Boot. Nach dem kurzen Starkregen dampft der Wald und wir mit. Die Holzstege sind schön rutschig. Wir sind froh, dass wir wieder in SLG übernachten und nicht wieder das ganze Zeug schleppen und aufbauen müssen! Eine Dusche wäre soooo schön, aber es gibt immer noch kein Wasser. Den naseweisen Entschluss, in den Nebenfluss zu springen, bezahlen wir mit reichlich Stichen. Aber ganz kurz fühlten wir uns erfrischt. Bereits beim Abendessen läuft der Schweiß wieder in Strömen.  Der jungen Mutter geht es ein klein wenig besser, sitzen oder gar aufstehen kann sie immer noch nicht, auch keine Milch geben. Die Frauen sollen Cicha herstellen, um die Milchproduktion anzuregen. Immerhin, der Kleine hat bei der Amme gut getrunken. Morgen früh schauen wir wieder vorbei.

Nach dem Essen sitzen wir nicht nur mit dem Team sondern auch mit Leuten aus dem Dorf zusammen. Seit 2007 kommen wir mit Ärzten hierher. Klar, dass es da viele Geschichten gibt. Und natürlich gibt es Pläne. Das Trinkwasserproblem und wenn möglich Strom liegen allen besonders am Herzen. Die alten Leitungen zur Quelle in den Hügeln verstopfen immer wieder, dann gehen sie kaputt und es gibt kein Ersatzmaterial. Rurre ist weit und ein Fachmann auch. Trini hatte von der Möglichkeit eines Miniwasserkraftwerkes gehört. In 11km Entfernung gäbe es 2 Kaskaden mit ausreichend Gefälle und Wasser. Joselo ist technischer Leiter von vielen Projekten gewesen, im besonderen Trinkwasser- und Stromprojekten in Komunidades. Man will nicht der Miesepeter sein, der alles gleich wieder schlecht redet. Aber 11 km sind eine verdammt weite Strecke im unwegsamen Urwald. Experten könnten einschätzen, ob die Durchflussmenge wirklich reicht für eine kleine Turbine. Aber wie soll diese „kleine“ Turbine dort hin kommen samt Gerätschaften zum Graben und installieren, samt Technikern? Es gibt keine Wege. Dazu sind 11km Leitungen gleichbedeutend mit 11km Risiko, Bäume die umfallen u. Ä. Schäden könnten dann nur Fachleute beheben. Wie kommen die hierher. In der Trockenzeit ist der Quiquibey kaum navegierbar. Aber selbst, wenn die technischen Voraussetzungen stimmen und die Mittel zum Bau sogar gespendet würden, wie soll der Betrieb der Anlage finanziert werden? Wieviel Geld muss jede Familie monatlich mindestens zahlen, damit die Anlage gewartet werden kann und im Notfall ein Fachmann geholt und bezahlt werden kann? Wo soll das Geld herkommen? Geldwirtschaft gibt’s im Dorf nicht. Was passiert mit Familien, die ihr Geld nicht zahlen oder ihre Arbeitsstunden nicht leisten? Tatsächlich ist das Konfliktpotential erfahrungsgemäß sehr hoch für die Gemeinden. Solarpaneelen pro Haushalt + Batterie und 1 Spannungswandler sind nicht nur günstiger, sondern auch einfacher zu händeln. Wer seine Anlage nicht hegt und pflegt, schadet nur sich selbst. Wenn eine Familie wegzieht, bleibt das Equipment da und kann für die Nächsten genutzt werden. Also gibt es schon mal viel weniger Konfliktpotential. Für die Schule haben die Dörfer am Fluss schon so eine Versorgungseinheit vom Munizip bekommen, also auch schon Erfahrung damit. Natürlich kann keine Familie sich solch eine Anlage selbst kaufen. Das Geld hierfür muss trotzdem von außen kommen. Bis weit nach Mitternacht wird gefachsimpelt, diskutiert und gelacht.

Heute ist den ganzen Tag Sprechstunde in San Luis Grande. Der morgendliche Besuch bei Mutter und Kind macht weiter Mut. Die junge Frau konnte sich zwar nicht alleine aufrichten, aber ohne Hilfe sitzen und das Fieber ist runter. Nur Milch hat sie immer noch nicht! Dem Kleinen rennt die Zeit davon!

Ernsthafte Sorgen macht uns auch das Baby der Mutter, die ihre Milch teilt. Die Frauen erzählten von Beulen am Kopf. So ganz schlau sind wir aus den Beschreibungen nicht geworden, ahnten aber schon die Tragödie, als wir das kleine im Dunkeln das erste Mal sahen. Jetzt sitz die junge Familie (16 und 17jahre alt) vor uns. Auch hier ist es das erste Kind. Die Geburt dauerte lange, fast 2 Tage. Zum Glück war die Mutter zu der Zeit in Rurre – dachten wir. Nun stellt sich heraus, dass sie zwar in Rurre war, aber nicht im Hospital, sondern einfach bei Bekannten. Und trotz des stark deformierten Kopfes ist man einen Tag später ohne Kontrollbesuch im Hospital mit dem Boot wieder ins Dorf gefahren. Das kleine stak zu lange im Geburtskanal.

Aus 2 Beulen ist eine große geworden, womöglich Hydrozephalus? Seit gestern Abend ist diese auch weitergewachsen. Wie sollen wir unsere Besorgnis vor der Mutter verbergen. Sie hat längst gemerkt, dass etwas nicht stimmt, hat Angst! Ohne zu tief in die medizinische Problematik einzudringen: zuerst muss man für eine genaue Diagnose analysieren, was ist in der Beule – Blut, Wasser…. Dann kann man über eine Behandlung entscheiden. Leider sind wir nicht „man“! Auch in Rurrenabaque gibt es dieses „man“ nicht. In La Paz oder Santa Cruz gäbe es Möglichkeiten zur Diagnostik und Behandlung. Also auf einem anderen Planeten…. Geld ist hier nur ein kleiner Teil des Problems. Die Kleine ist stabil und munter. Die Reflexe, Gewicht, Größe sind noch im normalen Bereich. Mit einem Namen für ihr Kind möchten die Eltern noch warten…

Durchatmen, es warten noch viele Patienten. Wir unterbrechen für eine Weile für die Zahnputzcampagne. Dank der vielen Zahnbürstenspenden, haben wir für alle Dörfer genug dabei. Danke an dieser Stelle! Aber zunächst sorgen diese gemeinen Lila Pillen wieder für großes Gelächter. Ein Grinsen ist dunkel-lilaner als das andere beim Blick in den Spiegel. Sonja wiederholt am Schaugebiss die Putzbewegungen. Beim gemeinsamen Abschlussfoto sind alle Zähne zumindest wieder weiß. Trotzdem bekommt Sonja ne Menge Arbeit an diesem Tag.

Kopfzerbrechen bereiten uns 2 Leishmaniasefälle (in Bolivien handelt es sich meist um den brasilianischen Erreger, welcher Haut und Schleimhäute angreift) im Dorf, beides Schulkinder. Nico versucht die Familien zu überzeugen, dass sie nach Rurre zur Diagnostik und Behandlung müssen – 21 Tage. 21 Spritzen. Die Behandlung zahlt der Staat. Aber wie kommen die Kinder nach Rurre und zurück? Alleine kann das Kind nicht fahren. Aber die Mutter kann ja auch die anderen Kinder nicht alleine lassen drei Wochen. Was wird mit der Ernte, die kann man nicht verschieben? In Rurre muss man sich sein Essen kaufen. Kosten, die keiner von ihnen aufbringen kann. Sr. Blanco wird immer fassungsloser, als ich das Problem beschreibe und übersetze. Er will unbedingt was unternehmen. Wir kennen das Gefühl nur allzu gut. Im Moment haben beide einen Ulzera, die typisch kreisrunde offene Wunde am Bein. Die Wunde wird zuheilen, aber damit stirbt der Erreger nicht. Er wandert übers Blut Richtung Kopf in Nase und Mund. Beide Kinder haben schon erste Anzeichen in den Nasenlöchern. Unbehandelt zerfrisst die Krankheit förmlich Mund und Nase( deshalb wird sie auch weiße Lepra genannt), greift die Stimmbänder an bis zum Verstummen. Eine grausame Aussicht und die Gefahr für andere ist groß. Mücken nehmen den Erreger über das Blut auf und übertragen die Protozoen beim nächsten Stich womöglich auf andere. Ich bitte Nico einen Plan zu machen, mit Kostenaufstellung. Am nächsten Morgen steht der Plan samt Finanzierung für Transport und Verpflegung für drei Wochen in Rurre. Nico kümmert sich darum, dass die kleinen Patienten samt Müttern und kleinen Geschwistern nach Rurre kommen. Untergebracht werden sie kostenlos im Gemeindehaus. Bestätigt das Labor den Verdacht, geht er mit ihnen jeden Tag zum Spritzen ins Hospital, damit sie auch wirklich hingehen. Die Spritzen sind schmerzhalft und 3 Wochen sind lang – oft wird deshalb unter- oder abgebrochen. Er wird auch das Essen organisieren, Woche für Woche. Sr. B. übernimmt die Kosten. Ich hoffe inständig, dass das Projekt angenommen wird und erfolgreich ist!

Den späten Nachmittag nutzen wir um die Medikamente für den Gesundheitsposten aufzufüllen. Leider ist die eigentliche Verantwortliche, Noemi, seit Monaten nicht im Dorf, sondern mit ihrem kranken Kind in Rurre. Während des Lockdowns durfte man auch als Kranker nicht reisen, auch wenn in Rurre das einzige Hospital weit und breit war. Deshalb ist sie lieber gleich dortgeblieben. Zum Glück finden wir 2 engagierte junge Leute, die nicht nur motiviert sind, sondern auch gut genug lesen und schreiben können. Das erleichtert uns die Sache unheimlich. So können wir wenigstens Basismedikamente mit Kurzbeschreibungen hierlassen. Der Abschied am nächsten Morgen ist herzlich. Alle helfen mit schleppen. Uns ist ein wenig wehmütig ums Herz – wir können frühestens 2023 wieder kommen. … werden es die beiden Babys schaffen?

Zum Glück haben wir nicht lange Zeit zum Grübeln – der Quiquibey ist nun so flach, dass wir sogar Flussabwärts einige mal rausspringen und schieben müssen! In 2 Dörfern werden wir heute behandeln. Inzwischen ist das Team eingespielt. Ein paar Medikamente werden knapp. Man weiß halt nie, was einen erwartet und welche Medikamente der Arzt am liebsten verschreibt. Zum Glück haben wir für alles Alternativen! In Corte richten wir unser Camp für diese Nacht ein. Zu unserem Glück müssen wir nicht weit laufen. Für die Familien hier ist das Glück weniger groß – der Fluss hat bereits 3 Hütten geholt, darunter die Schule….

Wir haben einen sehr schönen gemeinsamen letzten Abend unter einer Million Sternen. Vor allem die, die schon oft dabei waren, sind froh, wieder gemeinsam unterwegs sein zu können. Morgen ist schon der letzte Tag. Am Horizont tobt seit Stunden das Wetterleuchten und Melwin hofft inständig, dass es in den Bergen regnet, damit der Fluss steigt.

Doch am Morgen ist eher noch weniger wasser im Fluss. Dafür regnet es genau dann, als wir mit unserem Geraffel zum ersten Dorf laufen müssen – Schmierseife und Matsch. Der Rückweg wird lustig! Zum Glück werden die Kisten immer leichter. Der Impfer kann garnix mehr machen. Seine Impfungen sind schon alle. Torsten und ich toben innerlich. Das geht überhaupt nicht! Man könnte ja vorher mal fragen, wieviel man braucht oder womöglich in den Unterlagen nachschauen! Dann würde man auch die staatlich finanzierten Medikamente für die Kinder mit einpacken! Mit Wutanfällen ändert man jedoch nichts. Direkte Kritik ist nicht üblich. Wir schalten die deutsche Denke aus und überlassen das Feld Joselo. Er wird eine Beschwerde ans Hospital schreiben….

Das Regenwasser, was uns durchweicht, ändert leider nichts am Pegel. Die Stunden auf dem Quiquibey werden zum Nervenkrieg. Wir kommen nur im Schritttempo voran und auch der beste Motorista oder Puntero kann ein Auflaufen ab und zu nicht verhindern. Irgendwann sitzen wir in einer viel zu engen 90° Kurve auf einem unsichtbaren Baumstamm auf und knallen gegen die Uferwand. Wir wackeln und schaukeln. Versuchen uns mit den Bootsstangen frei zu schieben. Zum Aussteigen ist das Wasser zu tief und die Strömung zu stark. Schließlich kommen wir frei, aber die Schraube bekommt einen ordentlichen Schlag. Mit Flusssteinen versucht Melwin die Rotorblätter einigermaßen glatt zu kloppen und es geht weiter. Wir atmen auf, als wir endlich den Rio Beni erreichen. Noch eine Stunde trennt uns von Rurrenabaque, der Wasserstand ist normal.

In 3 Wochen sind wir wieder unterwegs mit den Ärzten. Danke an alle, die das Projekt auch in den letzten 2 schwierigen Jahren weiter unterstützt haben! Jeder Euro hat sich gelohnt und kommt an. Auch wenn mal niemand aus Deutschland vor Ort sein kann!

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